Eine gute Genesungsbegleitung braucht eine gute Organisation
VON STEPHAN HEKERMANN
Der entscheidende Gewinn bei der Be-schäftigung von EX-IN-Genesungsbe-gleiter/innen liegt nicht in der Schaffung eines zusätzlichen sozialpsychiatrischen Angebots für unsere Klientinnen und Kli-enten, sondern in der Einbeziehung von Menschen mit Erfahrung in die gesamte Organisation.Wenn es gelingen soll, die psychiatrische Versorgung menschlicher, individueller und auf Augenhöhe zu gestalten, dann kommt der Arbeit von EX-IN-Genesungs-begleiter/innen eine zentrale Rolle zu.
Drei Ebenen der Wirksamkeit von EX-IN-Genesungsbegleiter/innen Im direkten Kontakt mit den Klientinnen und Klienten. Dort können die EX-IN-Genesungsbeglei-ter/innen für einen niedrigschwelligeren Zugang zu Angeboten sorgen. Sie sprechen nicht nur von Hoffnung, sondern verkörpern eine hoffnungsvolle Sicht auf den Genesungsweg. Sie kennen viele Un-terstützungsmöglichkeiten aus eigener Erfahrung und sprechen dabei die gleiche Sprache wie die Menschen, die sie unterstützen. Selbstachtung und die Übernahme von Verantwortung werden gestärkt. Im Dialog mit den Mitarbeitenden auf dieser Ebene verbessern EX-IN-Genesungsbegleiter/innen den Kontakt zwischen Klientinnen/Klienten und Mitarbeitenden. Sie sind Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen Perspektiven. Sie hinterfragen das professionelle Selbstverständnis von Nähe und Distanz, achten auf die Sprache der Mitarbeitenden und sind Hoffnungsträger. Wenn es gut läuft, verringern sie Stigmatisierungsprozesse. Im Austausch mit der Leitung des Unternehmens und der Arbeit in Gremien Auf dieser Ebene fördern die EX-IN-Gene-sungsbegleiter/innen Recovery und Empowerment in der gesamten Organisation.Bei einer menschlichen psychiatrischen Versorgung auf Augenhöhe scheinen besonders die letzten beiden Ebenen von Bedeutung zu sein. In letzter Zeit ist aber eine Reduzierung der Genesungsbegleitung auf die Ebene des direkten Kontaktes mit den Klientinnen/Klienten zu beobachten. Dem gilt es entgegenzuwirken.Empowerment ermöglichen Genesungsbegleitung ist eng mit demKonzept des Empowerments verknüpft –Empowerment für die Klientinnen und Klienten, aber auch für die EX-IN-Genesungsbegleiter/innen selbst. Empowerment bedeutet Ermächtigung. Um Genesungsbegleitung wirksam werden zu lassen, muss sich diese Ermächtigung in der Organisation widerspiegeln, d.h.,Genesungsbegleitung muss mit Einfluss auf allen drei Ebenen ausgestattet werden.Um dies dauerhaft zu gewährleisten und die eigene Sicht der Genesungsbegleiter/innen auf die Prozesse zu erhal-ten, sind nach meiner Erfahrung folgendeAspekte zu berücksichtigen: Rahmenbedingungen für eine wirksame Genesungsbegleitung. Es bedarf der visionären Leitungsentscheidung, die Genesungsbegleitung in der gesamten Organisation zu implementieren. Daraus folgend muss die Genesungsbegleitung in die Organisationsentwicklungsprozesse unter Beteiligung allerwesentlichen Akteure inklusive der Leitung einbezogen werden.
Fragen, die andeuten, in welche Richtung diese Prozesse gehen könnten:– Was ist unsere Vorstellung von seeli-scher Gesundheit?– Welche Methoden, Grundhaltungen und Strukturen haben wir zur Förderung von Recovery und Empowerment?– Wo sprechen wir wie über unsere Klientinnen und Klienten?– Wo und wie setzen wir uns mit unseren eigenen stigmatisierenden Gedanken auseinander?– Was wollen wir verbessern?– Wie können EX-IN-Genesungsbeglei-ter/innen uns dabei unterstützen? EX-IN-Genesungsbegleiter/innen benötigen eine gute Qualifizierung. Diese sollte nicht darauf abzielen, aus ihnen Fachkräfte machen zu wollen, sondern sie in ihrem Bewusstsein der eigenenErfahrung zu stärken. In der EX-IN-Qualifizierung, zertifiziert durch den EX-IN e.V., werden unterschiedliche Erfahrungen von Menschen offengelegt und zu einem gemeinsamen »Wir-Wis-sen« integriert. Auf dieser Grundlage kann sich ein sicheres Rollenverständnis als EX-IN-Genesungsbegleiter/inentwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung füreine gelungene Etablierung der Genesungsbegleitung ist ihre selbstver-Foto: Thomas R. Müller30 SOZIALE PSYCHIATRIE 02/2022BEOBACHTUNGEN & ERFAHRUNGENständliche und umfängliche Einbin-dung ins Team. Die Genesungsbegleitung muss in die Gremien, besonders die Leitungsgremien der Organisation, einbezogen werden. EX-IN-Genesungsbegleiter/innen sollten nicht allein in einer Organisation arbeiten. Die Ausbildung eines beruflichen Selbstverständnisses und einer beruflichen Identität wird durchdie Zusammenarbeit von mindestens zwei Genesungsbegleiter/innen erst ermöglicht. Anders als bei herkömmlichen Stellen im Bereich Soziale Arbeit oder Krankenpflege ist es in der Genesungsbegleitung kaum möglich, die Stelle ohne den/die Stelleninhaber/in zu konzipieren. Ein gemeinsames Suchen und Erkunden der Fähigkeiten der Person und der Anforderungen der Firmenor-ganisation ist unerlässlich. Versuche,eine offene Stelle einfach zu besetzen,enden häufig mit der Erkenntnis, dasses nicht funktioniert. Leider besteht die Tendenz, das Scheitern dem/derGenesungsbegleiter/in zuzuschreiben.Statt konzeptionelle, strukturelle und organisatorische Aspekte in den Blick zu nehmen, erfolgt hier wieder eine Stigmatisierung, und das gesamte Projekt Genesungsbegleitung wird diskreditiert. Erforderlich sind der Austausch und die Supervision mit EX-IN-Genesungs-begleiterinnen und -begleitern aus anderen Organisationen, um die beschriebenen Ziele zu erreichen. Die Genesungsbegleitung benötigt Unterstützung, z.B. durch eine Mentorin oder einen Mentor im Team. Genesungsbegleiter/innen brauchenein gesichertes Beschäftigungsverhältnis. Eine geringfügige Beschäftigung kommt zwar manchmal auchden Stelleninhaber/innen entgegen,verhindert aber durch die geringe Anzahl an Wochenstunden eine wirkliche Einbeziehung im Team. Es bedarf einer transparenten Einordnung in die Organisationsstruktur mit klarer Aufgabenzuteilung.Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es besonders kritisch zu sehen ist, wenn bei den Genesungsbegleiter/in-nen ein (früheres) Abhängigkeitsverhältis als Nutzer/in des Angebots bestanden hat.
Stephan Hekermann, Inhaber von »ZukunftLeben«, Anbieter ambulanter Eingliederungshilfe und Soziotherapie, Mitglied im Vorstands der Rheinischen Gesellschaft für soziale Psychiatrie, Landessprecher in NRW für den EX-IN e.V.
LiteraturBock, Thomas u.a. (2009) Vom Erfahrenenzum Experten. Wie Peers die Psychiatrieverändern. Köln: Psychiatrie VerlagUtschakowski, Jörg (2015) Mit Peers arbeiten.Leitfaden für die Beschäftigung von Experten aus Erfahrung. Köln: Psychiatrie Verlag Utschakowski, Jörg (2016) Das EX-IN-Modell der Teilhabe und Teilgabe.In: Soziale Psychiatrie 2, 8