Digitale Barrierefreiheit und die Ausnahmeregelung der unverhältnismäßigen Belastung
DOCTYPEFOKUSTHEMEN 14.07.2023
Die Anforderungen an barrierefreie IT sind vielfältig und lassen sich in verschiedensten Standards, Normen, Verordnungen und Gesetzen wiederfinden. Umsetzerinnen und Umsetzer stoßen dabei zwangsläufig auf den Begriff der „unverhältnismäßigen Belastung“ im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Doch was bedeutet „unverhältnismäßige Belastung“ in diesem Zusammenhang und wann greift diese Ausnahmeregelung?
Verpflichtung zur Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit
Öffentliche Stellen in Deutschland und in der EU sind verpflichtet, die digitale Barrierefreiheit umsetzen. Dies beruht im Kern auf der EU Richtlinie 2016/2102, die auf Bundesebene im BGG und in den Ländern in verschiedenen Landesgesetzen umgesetzt wurde.
Neben den Gesetzen und Richtlinien für die digitale Barrierefreiheit auf Bundesebene existieren auch auf Landesebene und damit auch für die Kommunen entsprechende Regelungen. Die gesetzlichen Vorgaben auf Landesebene sind in länderspezifischen Gesetzen und Regelungen formuliert. Diese können auf Ebene des jeweiligen Bundeslandes auf den Seiten der Bundesländer entnommen werden, die im Artikel zu den länderspezifischen Regelungen verlinkt sind.
Unverhältnismäßige Belastung als Ausnahmeregelung
Die in deutsches Recht umgesetzte EU-Richtlinie lässt einzelne Ausnahmen zur Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit zu. Eine davon betrifft die sogenannte unverhältnismäßige Belastung. Von dieser Ausnahmeregelung haben auch der Bundesgesetzgeber und einige Länder Gebrauch gemacht. Diese gilt für den Fall, dass die Umsetzung zu einer unverhältnismäßigen Belastung führt. Sie ist in § 12 a Absatz 6 BGG wie folgt formuliert:
§ 12 a BGG – Barrierefreie Informationstechnik
(6) Von der barrierefreien Gestaltung können öffentliche Stellen des Bundes ausnahmsweise absehen, soweit sie durch eine barrierefreie Gestaltung unverhältnismäßig belastet würden.
Quelle: gesetze-im-internet.de
Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang „unverhältnismäßig“? In der EU Richtlinie 2016/2102 ist die unverhältnismäßige Belastung in Erwägungsgrund 39 definiert.
Aus diesem Erwägungsgrund gehen nun mehrere Aspekte hervor: Eine unverhältnismäßige Belastung kann nur einzelne Inhalte betreffen und nicht bspw. eine gesamte Website. Dennoch müssen die betroffenen Inhalte so barrierefrei wie möglich gestaltet werden. Es dürfen lediglich jene Anforderungen unerfüllt bleiben, die dafür sorgen würden, dass erst eine unverhältnismäßige Belastung entsteht. Alle übrigen Barrierefreiheitsanforderungen sind dennoch zu erfüllen. Der Erwägungsgrund definiert gleichzeitig Bedingungen für eine unverhältnismäßige Belastung, wobei der Rahmen hierfür eng gefasst ist.
In Artikel 5 der EU-Richtlinie 2016/2102 wird schließlich beschrieben, wie eine unverhältnismäßige Belastung festgestellt werden kann und wie mit dieser Einschätzung zu verfahren ist.
Warum greift diese Ausnahmeregelung nur selten?
Die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit ist ein entscheidender Schritt, allen Menschen unabhängig von ihrer Fähigkeit oder momentanen Situation den Zugang zu digitalen Informationen und die Nutzung von digitalen Diensten zu ermöglichen. Die Ausnahmeregelung dient dazu, öffentliche Stellen vor einer unverhältnismäßigen Belastung bei der Umsetzung zu schützen. Die generelle gesetzliche Verpflichtung zur Umsetzung besteht jedoch weiterhin, da die gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion hohe Güter darstellen. Dies bedeutet, dass in der Feststellung einer Ausnahme eine Güterabwägung nach festgelegten Kriterien erfolgen muss, die am Ende feststellt, welches Gut im konkreten Fall überwiegt.
Zu diesem Zweck definiert der zuvor zitierte Erwägungsgrund begrenzte Möglichkeiten zur Beurteilung einer unverhältnismäßigen Belastung. „Keine berechtigten Gründen“ sind demnach mangelnde Priorität, die dem Thema beigemessen wird, fehlende Zeit, sich mit dem Thema sowie der Umsetzung zu befassen, oder fehlende Kenntnis über die bestehenden Barrierefreiheitsanforderungen. Dies bedeutet wiederum auch, dass mangelnde personelle Ressourcen und fehlendes Wissen innerhalb der Institution ebenfalls keine Kriterien zur Nutzung der Ausnahmeregelung darstellen.
Gleiches gilt laut europäischem Gesetzgeber für das Fehlen barrierefreier Hardware und Software, da ausreichende Möglichkeiten vorhanden sind, barrierefreie Hardware und Software zu beschaffen oder mit Hilfe vorhandener Dokumentationen zu erstellen.
Für Bundesbehörden gilt eine gesetzliche Verpflichtung zur Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit bereits seit 2006. Ein ausreichend langer Vorlauf führt hier nahezu zum Ausschluss der Möglichkeit, sich auf eine Ausnahme wegen unverhältnismäßiger Belastung zu berufen. Dieses Kriterium wird perspektivisch für alle Behörden in Deutschland und der EU gelten, je länger die gesetzliche Verpflichtung besteht.
Nach Artikel 5 der EU-Richtlinie 2016/2102 muss eine Bewertung der Vor- und Nachteile einer barrierefreien Gestaltung erfolgen. Hierbei sind die Bedürfnisse an Information vor allem von Menschen mit Behinderung gegenüber den im Einzelfall nicht barrierefrei herzustellenden Inhalten abzuwägen. Dies bedeutet, dass nicht der gesamte Inhalt nicht barrierefrei gestaltet werden kann, durch Nutzung dieses Ausnahmetatbestandes, sondern nur einzelne Inhalte. Die Inhalte, die aufgrund einer unverhältnismäßigen Belastung nicht barrierefrei gestaltet werden können, sind nebst Begründung der Unverhältnismäßigkeit in der Erklärung zur Barrierefreiheit aufzuführen. Darüber hinaus sind Angaben zu einer barrierefreien Alternative zu den entsprechenden Inhalten darzustellen.
Die Begründung der Unverhältnismäßigkeit mit dem Argument mangelnder Nutzung der Inhalte durch Menschen mit Behinderungen beruht in der Regel auf nichtzutreffende Vorstellungen von Menschen mit Behinderungen und ist daher nicht ausreichend.
Was sind Beispiele für eine unverhältnismäßige Belastung?
Das Bewerberportal der Polizei wäre ein mögliches Beispiel, bei dem eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt. Bewerberinnen und Bewerber müssen den üblichen Ausbildungsprozess durchlaufen. Dazu zählt auch die Ausbildung sowie der Dienst an der Waffe. Aus diesem Grund können blinde Personen von dieser Tätigkeit ausgeschlossen sein. Dies führt dazu, dass Nutzen und Aufwand der barrierefreien Gestaltung des Bewerberportals für blinde Personen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen.
Dennoch sollten weitere Barrierefreiheitsanforderungen, die beispielsweise Menschen mit anderen Einschränkungen helfen, berücksichtigt und entsprechend umgesetzt werden. Dazu zählen z. B. die Anforderung an einen ausreichenden Kontrast: Text und Hintergrund sollten die Mindestkontrastwerte einhalten.
Fazit
Die gesetzlichen Grenzen zur Nutzung einer Ausnahmeregelung sind sehr eng, da die digitale Barrierefreiheit zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe führt und eine Ausgrenzung verhindern soll. Eine sorgfältige Abwägung von relevanten Aspekten ist gesetzlich vorgegeben und von der Behörde durchzuführen, die sich auf die Ausnahmeregelung berufen möchte. Mangelnde Priorität, Zeit oder Kenntnisse rechtfertigen keine Ausnahme. Ausnahmen beziehen sich immer auf Einzelfälle und spezifische Aspekte und können zeitlich begrenzt sein. Sie bedeutet auch nicht, dass die digitale Barrierefreiheit insgesamt nicht beachtet werden muss. Die Ausnahme gilt nur für den einzelnen spezifischen Aspekt und nur in dem Umfang, der notwendig ist, um eine unverhältnismäßige Belastung so gering wie möglich zu halten. Dementsprechend ist festzustellen, dass bereits der europäische Gesetzgeber einen restriktiven Umgang mit der Möglichkeit einer Ausnahme der Nichtumsetzung der digitalen Barrierefreiheit vorgesehen hat und diesem Grundgedanken auch von den deutschen Behörden Rechnung zu tragen ist. Dies sichert den Zugang zu Informationen für Menschen mit Behinderung und sollte öffentlichen Stellen ein wesentliches Anliegen sein.
Stand: 14.07.2023